Missverständnis Muskelaufbau – Warum Muskelmasse nicht automatisch stärker macht
Was bringt dir mehr PS, wenn du sie nicht auf die Straße bekommst?
In einer weiteren tiefgründigen Folge des Fritz:cast gehen Prof. Dr. Jens Ebing und ich (Fritz Reincke) der Frage nach, wie sich Muskelwachstum tatsächlich in Leistung übersetzen lässt – und warum das oft eben nicht automatisch passiert.
Die Folge beleuchtet zentrale Fragen der Trainingswissenschaft:
Wann macht Muskelaufbau Sinn?
Warum reicht ein großer Muskel nicht aus?
Wie wird Kraft zur Leistung?
Und was braucht es, damit Training wirklich funktional ist?
Muskelmasse ohne Leistung? Willkommen im Dilemma
Muskelquerschnittsvergrößerung (Hypertrophie) ist ein häufiges Ziel im Fitness- und Reha-Bereich. Doch mehr Muskelmasse bedeutet nicht automatisch mehr Leistung. Jens bringt das treffend auf den Punkt:
„Mehr PS heißt nicht, dass du der bessere Fahrer bist.“
Im Training spricht man dabei vom Konzept der Utilisation – der Fähigkeit, gewonnene Struktur auch funktional zu nutzen. Es geht also um die Umsetzung von Kraft in Geschwindigkeit, Bewegung und Leistung. Und genau das scheitert oft an fehlender Koordination, ungenutzten Muskelketten oder mangelnder Elastizität im System.
Leistung ist mehr als nur Kraft
Kraft ist ein punktueller Wert – immer vorhanden, zum Beispiel durch die Erdanziehung. Doch Leistung ist Kraft mal Geschwindigkeit. Wer hoch springen, schnell laufen oder abrupt abbremsen will, braucht nicht nur viel Kraft, sondern vor allem die Fähigkeit, sie schnell und effizient zu übertragen.
Jens erklärt es mit einem physikalischen Vergleich:
„Entscheidend ist nicht die Festigkeit der Muskulatur, sondern ihre Fähigkeit, sich im richtigen Moment festzumachen und sofort wieder loszulassen – wie bei einer Peitsche.“
Das Zusammenspiel aller beteiligten Strukturen – Muskeln, Sehnen, Faszien, Nerven – muss stimmen. Das bedeutet auch: Ein nicht aktivierter Muskel in der Kette zerstört die ganze Bewegung.
Trainingssteuerung: Wie kommt Leistung wirklich zustande?
Wer leistungsfähiger werden will, muss verstehen, wie Bewegungen entstehen. Statt nur „funktionell“ zu trainieren, muss zuerst analysiert und gemessen werden:
Welche Muskeln sind beteiligt?
Wann feuern sie?
Und: Tun sie das auch wirklich?
In der Praxis bedeutet das: Messsysteme, EMG, Reaktivkraftplatten und funktionelle Tests helfen zu identifizieren, welche Muskeln (noch) nicht richtig arbeiten – und warum.
Von der Isolation zurück in die Kette
Ein Muskel, der über lange Zeit nicht aktiviert wurde, kann durch bloßes Bewegungstraining nicht einfach reaktiviert werden. Jens beschreibt es drastisch, aber treffend:
„Das ist wie eine Herzdruckmassage des Muskels. Erst wenn er wieder da ist, kann er sich auch wieder integrieren.“
Ein gutes Beispiel ist der Rückenstrecker (Multifidi). Wird er in einer Reha nicht isoliert reaktiviert, fehlt er später in der Bewegungskette – egal, wie stark der Longissimus aussieht.
Kieser-Training & Co – nützlich oder unvollständig?
In der Folge sprechen wir auch ausführlich über Gerätegestütztes Training wie bei Kieser. Jens macht klar:
Isoliertes Training kann helfen, strukturelle Defizite zu beheben.
Doch ohne Integration in funktionelle Bewegungen bleibt es unvollständig.
Es braucht mehrdimensionales Denken, um tatsächliche Leistungsfähigkeit zurückzuerlangen.
Und: Wirtschaftlich erfolgreiche Modelle sind oft plakativ. Die echten Lösungen? Komplexer – und schwerer zu vermarkten.
Leistung im Alltag, nicht nur im Sport
Besonders eindrücklich ist Jens’ Punkt, dass Training nicht nur für Athleten gedacht ist. Auch der Alltag älterer Menschen ist „komplexeste Sportart“:
„Treppensteigen mit Einkäufen erfordert Schnellkraft, Balance und Muskelkoordination – sonst hilft dir dein Kraft-Ausdauer-Zirkel gar nichts.“
Warum viele Trainingsansätze scheitern
Oft wird zu schnell in „funktionelles“ Training eingestiegen, ohne vorher zu messen, ob alle Glieder der Kette auch funktionieren. Wenn ein Muskel morphologisch nicht vorhanden oder neurologisch nicht ansteuerbar ist, kann er sich auch nicht einfach „wieder einschalten“.
Jens bringt es auf den Punkt:
„Wenn der Motor kaputt ist, bringt’s nichts, die Zündkerzen zu wechseln.“
Fazit: Muskelaufbau ist nur der Anfang
Der Podcast zeigt: Muskelaufbau ist ein wichtiger, aber nicht ausreichender Schritt zur Verbesserung von Leistung. Entscheidend ist:
die richtige Bewertung von Anforderungsprofilen,
gezielte Reaktivierung nicht aktiver Muskeln,
und die smarte Integration in funktionelle Bewegungsmuster.
Ob im Hochleistungssport, in der Reha oder im Alltag: Nur wer misst, kann sinnvoll trainieren.